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Philoktetes und Nestor
Varianten im Dienste der Dramaturgie

Philoktetes

Philoktetes gehörte zu den Heerführern, die die Atriden bei der Rückholung der von Paris geraubten Helena halfen. Doch Philoktetes gelangte zunächst nicht bis zu den Mauern Trojas. Denn unterwegs in die Troas biss ihn eine Schlange in den Fuss. Wegen der Schmerzen und der stinkenden Wunde wurde er auf Lemnos zurückgelassen.
Aber Philoktetes besaß etwas, das für die Einnahme Trojas absolut notwendig war: Den Bogen des Herakles. Als die Achäer dies prophezeit bekamen, wollten sie Philoktetes nachholen lassen.

Um die Leiden des Philoktetes deutlicher in den Vordergrund zu schieben, wandte der Tragödiendichter Sophokles einen recht unauffälligen Trick an: Er erklärt die Insel Lemnos ganz einfach zur unbewohnten Insel.

»Dies ist der Strand des meerumströmten Lemnos,
von Menschen unbewohnt und unbesucht.« Sophokes: Philoktetes 1,1f.

Ein Leben ála Robinson musste der Titelheld zehn Jahre lang ertragen, noch dazu geplagt und gehandikapt durch seine schwere Beinverletzung, die ihm die Schlange zugefügt hatte.

Doch (bereits) bei Homer war Lemnos keine unbewohnte Insel, nicht einmal arm war sie:

Schiffe aus Lemnos waren, mit Wein beladen, gelandet,
Viele, von Euneos gesandt, dem Sohne des Iason ,
Den Hypsipyle Iason gebar, dem Hirten der Völker;
Für die Atriden allein, Agamemnon und Menelaos,
Sandte er tausend Maße vom süßen Wein zum Geschenke. Homer: Ilias 7,467ff.

Freilich wäre ein bestens versorgter Philoktetes kein besonders guter Einstieg für das Drama gewesen, denn wie hätte der Heros den für die Dramaturgie nötigen Zorn auf seine ehemaligen Mitstreiter aufbringen können? (s. Sophokles: Philoktetes)

Nestor

Dieselbe Tragödie – Philoktetes – liefert uns auch ein weiteres Beispiel für die dichterische Freiheit. Odysseus und Neoptolemos – der Sohn des gefallenen Achilleus – kommen nach Lemnos, um Philoktetes nun doch ins Lager der Achäer zu bringen. So erfährt Philoktetes (und mit ihm die Zuschauer), was sich einstweilen vor Troja zugetragen hat. Auf seine Frage, wie es dem edlen Greis Nestor denn geht, ob er noch am Leben sei, erhält er von Neoptolemos folgende Antwort:

»Ihn traf es schwer. Der Tod nahm ihm den Sohn
Antilochos. Es war sein Einziger.« Sophokles: Philoktetes 424f.

Weder Sophokles noch sein Publikum mochte wirklich geglaubt haben, dass Antilochos der einzige Sohn des alten Nestor gewesen sei. Es gab damals wohl kaum einen Hellenen, der nicht wenigstens die Grundzüge der Odyssee gekannt hätte, und es gibt in diesem Epos wesentlich unwichtigere Details als das folgende, die als geflügeltes Wort, Inbegriff oder Metapher nahezu die gesamte Antike hindurch nachweisbar sind.

Auf der Suche nach seinem Vater Odysseus besucht Telemachos den greisen Nestor in dessen Palast, um zu erfahren, ob er vielleicht etwas über das Schicksal des Vermissten gehört hat. Gerade erst angekommen trifft der junge Mann Nestor im Kreise seiner Söhne und Gefährten an. An einer späteren Stelle präsentiert Homer die verblieben Söhne des Nestor namentlich:

[...] Nestor [...]
hielt umringt von all seinen Söhnen das Szepter in Händen.
Stratios, Perseus, Aretos, der göttergleiche Echephron,
Thrasymedes, als sechster der Held Peisistratos, [...] Homer: Odyssee 3,411ff.

Thrasymedes wird schon in der Ilias öfters genannt, wo er aber im Gegensatz zu seinem Bruder Antilochos eine wesentlich kleiner Rolle gespielt hat. Und Peisistratos begleitet Telemachos nach Sparta, in den Palast des Menelaos.

Was wollte Sophokles also zum Ausdruck bringen, wenn er Nestor die übrigen Söhne abspricht?

Zum Einen Dramatik: Nestor zählte zu den berühmtesten Heroen des Trojanischen Krieges, die Frage nach seinem Befinden lag auf der Hand. Hätte Neoptolemos erklären sollen, einer der Nestorsöhne sei getötet worden; Nestor habe "nur noch" sechs weitere? Die Leiden der Achäer lassen sich mit einem greisen Nestor, dem der einzige Sohn geraubt wurde, wesentlich besser darstellen. Dem Publikum und dem Philoktetes muss ja glaubwürdig vermittelt werden, wie dringend der Ausgesetzte benötigt wird (Laut einer Prophezeiung können die Achäer ohne seinen Bogen Troja nicht einnehmen).

Andererseits kann Neoptolemos Aussage ebenfalls meinen, wie sehr Nestor den Tod des Antilochos bedauert, dass der Greis sich nur so fühlt, als wäre sein einziger männlicher Nachkomme gefallen. Gerne hat man seinerzeit Antilochos’ gedacht (Pindar: Oden P6), denn durch die Umstände seines Ablebens galt er als der ideale Sohn, und als solcher wurde seine Geschichte gerne weitererzählt: Während einer der Schlachten vor Troja wurde der Streitwagen Nestors durch ein tödlichverwundetes Pferd lahmgelegt. Memnon, der mit den Trojanern verbündete Aithiopenfürst, wollte das ausnutzen und preschte heran. Doch Antilochos kam zu Hilfe und opferte sich für den Vater, der durch den Zeitgewinn, den ihm der Sohn verschaffte, gerettet wurde.

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2003
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Antike